1. Kapitel

 

 

Die weibliche Galionsfigur des Segelschiffes sah das bergige Land näher heran rasen. Ein kräftiger, auflandiger1 Wind trieb die Brigg2 vor sich her, so schnell, dass die hölzernen Masten unter der Last der Beanspruchung ächzten und kreischten. Ein geübtes Ohr hätte den kommenden Mastbruch erkannt. Doch an Bord befand sich kein geübtes Ohr. Mit aufgeblähten gelben Segeln jagte die Ilshir durch das grünblaue, schäumende Meer auf den Hafen zu, einen Hafen, der eigentlich nicht ihre Bestimmung war, den der Wind und die Götter jedoch gewählt hatten. Regen peitschte den Zweimaster mit voran, schlug in die geöffnete Luke des großen Laderaums, wo sich schon Wasser der die Ilshir überspülenden Wellen angesammelt hatte. Nicht viel, aber vier Finger hoch stand es schon in der dunklen, geräumigen Transportkammer unter Deck, die so unwirklich und seltsam leer wirkte. Unwirklich und seltsam deshalb, weil auch der Laderaum des saubersten Schiffes der Welt niemals ganz leer war. Der Regen fiel aus tief hängenden, dunklen Wolken, die so viel Finsternis brachten, wie es nicht üblich war, und unbekannt. Es war Furcht einflößend und erinnerte jeden, der hinaus sah über das Meer, an die Ankunft von Eldjam, dem Dunklen, und Rildjem, dem Grausamen, sich zu vereinen und Schrecken und Angst über die Welt zu bringen.

 

Noch immer hielt das Schiff auf das Land zu, und seine Geschwindigkeit verringerte sich nicht. Doch unmerklich veränderte sich der Kurs. Der Ort, an dem die Ilshir auf das Land treffen würde, war nun nicht mehr der Hafen oder seine feste, hohe, graue Mauer, nun zielte sie auf den Strand neben der Stadt. Genau dorthin, wo sich seit einigen Jahren die einfachen Hütten von Zugereisten ohne viel Geld befanden. Billige, hölzerne Unterkünfte mit einfachen Strohdächern, die nur den Regen und den Wind weitestgehend abhielten, sonst aber nicht wirklich Schutz boten. Weder vor Dieben, noch vor Ungeziefer, das sich bevorzugt solchen Stadtteilen zuwendet.

 

Als der große Zweimaster den Punkt überschritten hatte, an dem bei seiner hohen Geschwindigkeit noch ein die Havarie3 verhinderndes Manöver möglich gewesen wäre, ertönte vom großen, runden Turm am Hafen ein Horn, das die Stadt vor dem Neuankömmling warnte. Der Signalton wurde an verschiedenen Stellen innerhalb der Mauern aufgenommen und weitergegeben. Bald war die gesamte Stadt durch das Alarmsignal vorgewarnt. Trotz des Regens, den der Wind vor sich hertrieb, konnten die Männer und Frauen der Stadtwache, die auf den seeseitigen Türmen postiert waren, das Schiff erkennen, auch wenn es keine Positionslichter besaß. Das grelle Segel der Familie Yagh Funodi4 war auch bei dem dämmrigen Licht des Unwetters noch weithin sichtbar.

 

 

 

Eldja Benāba, die Kommandantin der Wache, kam auf die Mauer und stellte sich hinter eine Zinne der Mauerkrone, um wenigstens etwas Schutz vor dem seeseitigen Wind zu haben, der die Regentropfen fest und hart in ihr Gesicht schlug. Die kleine, schwarzhaarige Frau mit den braunen Augen und der großen Nase hasste es, nass zu werden. Fluchend starrte sie um die Ecke hinaus in die tiefe Bucht vor Ky Lā. Sie ging wieder hinter der Mauer in Deckung, und als sie grübelnd dort hockte, den Rücken gegen die Stadtmauer gelehnt, kam Iko Oreno herbei, der oberste Befehlshaber der Palastwache. Auch ihm ließ das Alarmsignal offenbar keine Ruhe; was hatte er sonst bei diesem Sauwetter auf der Hafenmauer zu suchen?

 

Er begrüßte Eldja freundlich und wagte einen Blick hinaus. Dann kam er ebenfalls in Deckung und hockte sich neben die junge Frau aus der Familie der Benāba, mit dem Rücken an die Mauer.

 

„Was immer es ist, es wird uns knapp verfehlen“, sagte er laut über das Heulen des Windes.

 

„Was immer es ist hat ein Schiff der Yagh Funodi geklaut; wer das wagt, sollte in der Lage sein, einen Plan komplett durch zu ziehen, und nicht ein paar Schritte neben das Ziel prallen“, erwiderte Eldja. „Es macht so keinen Sinn!“

 

„Ein Sinn muss sich uns nicht sofort erschließen“, hörte Iko sich selbst sagen. Eldja blickte ihn von der Seite an. Er mochte etwa 30 sein, vielleicht etwas älter. Die grauen Schläfen machten ihn attraktiv in den Augen der jungen Kommandantin. Sein dunkler Mantel verbarg seinen Körper. Das tat er fast immer, nicht nur bei Regen; jeder wusste, dass es nur einen Grund hatte: Iko war in einer dieser seltsamen Religionsgemeinschaften, die überall entstanden und von sich selbst die größten Stücke hielten. Dabei gab es doch schon genug Religionen; warum die Städte weiter mit Tempeln zubauen, wenn es derer schon so viele gab? Aber schließlich war das Ikos Privatsache. Er hatte nie versucht, jemanden für seine Religion zu begeistern. De facto wusste niemand, wie die Gruppe sich überhaupt nannte. Irgend so ein Orden eben. Einer von vielen.

 

Wieder blickte er um die Mauer. Seine grünen Augen tasteten das Schiff ab. Definitiv stimmte etwas nicht; Es konnte nicht sein, aber Iko war sich sicher, dass dieses Schiff leer war. Kein Lebewesen an Bord, das die Ilshir in die lang gezogene Bucht hätte steuern können. Trotzdem war da etwas …

 

„Komm mit“, sagte er zu Eldja. „Wir müssen uns das ansehen!“

 

Die Kommandantin stand auf und folgte dem Offizier. Er schlug sich die Kapuze über den Kopf und ging mit schnellen, festen Schritten die schmale Treppe hinunter in den Innenhof des Hafenkastells. Dort stand die kleine Dienerin, die Iko Oreno überall hin begleitete wie ein Schatten. Die dunkelblonde Frau reichte dem Oberbefehlshaber der Palastwachen einen Langbogen5, sowie den Köcher mit den Pfeilen, von denen einer mit anders farbigen Federn bestückt war. Auch das gehörte scheinbar zu seinem Orden dazu, irgendwie. Keiner hatte eine Antwort, aber es gab auch niemanden, der es gewagt hätte, Iko Oreno zu fragen.

 

Der Offizier befestigte den Köcher mit den Pfeilen an seinem Gürtel, dessen Ende vorne lang herunter hing, nachdem es durch die Schnalle gezogen und einmal geknotet war. Er trug eine kurze, helle Tunika6 und eine etwas dunklere Hose, über die seine schwarzen, gestulpten Stiefel bis knapp unter die Knie gezogen waren. Eine ganz gewöhnliche Tracht eigentlich, auch wenn die etwas einfallslose beige-beige Farbkombination nicht gerade ein Hingucker war. Aber Iko Oreno war kein modebewusstes Mitglied des Hofes oder wollte der Mittelpunkt der Stadt sein. Alles war so, wie es sein musste für ihn. Alles, bis auf dieses unheimliche Schiff, das hier nichts zu suchen hatte, wäre es nicht von jemandem gesteuert worden.

 

Eldja schlug ihren dunklen Umhang enger um den Körper und folgte dem Mann, der gerade noch die Sehne mit einer Drehung des Oberkörpers auf den Bogen gezogen hatte. Nun ging er mit schnellen Schritten auf das Westtor des Hafenkastells zu, das an den Strand führte, etwa an jene Stelle, wohin auch das Schiff gleich kommen würde. Eldja ließ die Tür vom Wachsoldaten öffnen und ging als erste hinaus. Sie starrte dem Schiff entgegen.

 

„Oh-oh“, sagte sie nur

 

„Da bohrt sich aber gleich jemand mächtig tief in den Boden der Tatsachen“, sagte auch Iko, als er neben ihr stand. Sein Bogen war schon mit einem Pfeil bestückt. Eldja registrierte, dass es der einzig andersfarbige Pfeil war. Vielleicht war er über und musste weg, deshalb wollte er ihn auf das Schiff feuern … die Kommandantin wischte den albernen Gedanken fort. Es würde schon einen Grund haben. Egal welchen.

 

Eldja Benāba winkte einigen ihrer Soldaten. Sofort kamen sie angetrabt.

 

„Evakuiert die Häuser, die hier vorne liegen“, befahl sie ihnen. „Ich will nicht, dass jemand zu Schaden kommt. Auch nicht von den Sklaven. Sie sind teuer genug!“

 

Die Männer und Frauen rannten los; es waren nur wenige Hütten, die so nah am Meer standen. Manchmal kamen auch höhere Wellen, und dann waren die Verschläge nahe am Wasser eine eher weniger gute Idee. Nur die jüngsten Neuankömmlinge, manchmal auch fahrende Händler oder sogar Sklaven, waren hier einquartiert. Die Soldaten der Stadtwache schoben die Leute gerade weg. Aus einer Art Unterstand führten sie vier Sklaven ab, die aneinander gekettet waren. Die Verbindung mit der Wand hatten die Soldaten zerschlagen. Nicht die Kette, die war stabil, aber den Holzpfeiler. Das Dach der Hütte fiel fast augenblicklich in sich zusammen und drückte die schwachen Wände auseinander. In dem Augenblick hatte das Schiff die erste Bodenberührung. Als der Kiel7 über den Grund schabte, ächzte die Brigg noch mehr. Ein Segel riss, und einer der beiden Masten brach. Nur die Takelage8 hielt ihn ab, stumpf auf Iko und Eldja zu kippen, als die Ilshir sich ächzend und laut über den Wind und Regen knarrend höher und höher aus dem Wasser hob. Die Größe machte jedem klar, dass es sich hierbei um ein reines Hochseeschiff handelte, nicht um eine Galeere9 mit wenig Tiefgang, die auch einen Fluss befahren konnte.

 

Mit einem Schritt zur Seite verschwanden die beiden Offiziere im sicheren Torbogen des Kastells. Mit großen, grünbraunen Augen starrte Ikos Dienerin auf das auf sie zu rutschende Schiff. Der zweite Mast brach und kippte gegen die Mauer. Das Schiff stand. Es versperrte fast das Westtor des Kastells der Stadtwache. Die drei Augenzeugen im Torbogen sahen sich verblüfft an. Dann rannte Iko hinaus und suchte sich einen Aufgang an Deck.

 

„Ich würde es von der Mauer aus probieren“, rief Eldja hinter ihm her.

 

„Er kann dich bei dem Regen und Sturm nicht hören“, sagte die junge Dienerin leise zur Kommandantin. „Ich werde ihn rufen. Geh hinauf, er folgt dir rascher, als du erwartest.“

 

Verdutzt blickte Eldja das Mädchen an, das ein wenig kleiner war als sie, wandte sich dann jedoch um und stieg auf den Wehrgang hinter der Mauer. Sie blickte hinüber an Deck, wo sich ein unordentlicher Haufen Gerümpel befand, der durch die gebrochenen Masten verursacht worden sein mochte. Fast gerade stand das Schiff am Strand, eine breite Furche hatte es gegraben, die mit Wasser angefüllt war. Plötzlich war Iko neben ihr.

 

„Das ging wirklich schnell“, staunte Eldja.

 

„Ja, mag wohl sein“, gab Iko zu. „Wie sieht das denn da aus? Das kommt doch nicht nur von zwei kaputten Stöcken!“

 

„Bitte, was?“

 

„Na, das da, an Deck. Das kann nicht von den Masten kommen, nicht nur. Das ist ja ein völliges Chaos, als wenn …“, dann unterbrach sich der Oberbefehlshaber der Palastwache jedoch selbst. Er stieg zwischen zwei Zinnen und sprang dann auf den Mast, der an der Mauer lehnte, um darüber bis an Deck zu gehen. Die ganze Zeit über hielt er den Bogen schussbereit in den Händen und blickte unablässig hin und her. Kein Ziel zu sehen. Er nahm ein Seil und warf es hinüber zur Mauer, dann ein zweites. Als er seine Enden befestigt und gesichert hatte, winkte er Eldja zu. Auch seine Dienerin stand dort oben. Nachdem sie die Taue befestigt hatten, betraten beide die Seile und hangelten sich auf das Deck hinunter. Soldaten standen hinter den Frauen auf der Mauer und sicherten das Kastell. Iko wandte sich dem Deck zu und suchte unablässig nach einem Indiz dafür, dass ein scheinbar leeres Schiff mit jedem Fetzen Stoff im Wind bis auf das Ufer neben Ky Lā gefahren war, obwohl das Wetter das gar nicht erlaubt haben dürfte.

 

Nichts. Nur der zerrissene Stoff über und neben ihm schlug knallend im heulenden Wind, der Regen prasselte weiter auf das nasse, unordentliche Deck, und die Planken knarrten bei jedem Schritt. Sogar dann schon, wenn man nur das Gewicht verlagerte auf ein anderes Bein. Und ganz seicht schaukelte die Ilshir im Wind; nichts, was wirklich Vertrauen in den so fest wirkenden Stand erweckte.

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Vom Meer auf das Land wehend.

 

Zweimastiges Segelschiff.

 

Unglück.

 

Größte und vermögendste Händlerfamilie der Welt Drurka.

 

Vollholzbogen von (in diesem Fall) 1,73 m Länge, bei dem der Abschuss über den Handrücken erfolgt.

 

Obergewand, das mit und ohne Ärmel auftritt, von nicht tailliertem, geraden Schnitt, das in seiner Länge stark variieren kann.

 

Längsliegender Grundbalken des Schiffes.

 

Übriges aufgehendes Gut des Seglers, Rigg.

 

Ruderschiff, das von Sklaven bewegt wird, die unter Deck angekettet sind.