Prolog
Panisch laut schreiend vor Todesangst rannte das kleine rothaarige Mädchen über das abgeerntete Feld auf den Waldrand zu. Sie sprang kreischend über den sich im Sterben windenden und von Onta-Pfeilen durchbohrten Dorfvogt. Hinter ihr tobte ein schreckliches Massaker. Ihr Dorf, Losqor Mollad, brannte, viele Einwohner lagen getötet auf der Straße oder hinter ihr auf dem Feld. In die Häuser kamen die bewaffneten, schwarzhaarigen Krieger. Sie erschlugen Schlafende und ermordeten Unbewaffnete, niemand in dieser ländlich geprägten Ansiedlung war ernsthaft in der Lage, den Angreifern entgegen zu treten. Die Soldaten wollten offensichtlich auch keine Gefangenen machen, waren nicht auf Sklavenjagd, sondern hier ging es nur darum, zu töten. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, und nur voll unbeschreiblicher Angst rannte das kleine Mädchen in seinem dünnen Schlafhemdchen weiter. Der Wald …
Er würde ihre Rettung bedeuten. Aber er war noch so weit entfernt. Und die Feinde schossen immer wieder, und einige kamen sogar hinter ihnen her gerannt. Es ging den Kriegern nicht nur darum den Ort nieder zu brennen und die Bewohner zu vertreiben, sondern sie wollten Losqor Mollad auslöschen, mitsamt den Bewohnern. Sonst müssten sie die schreiend Fliehenden nicht verfolgen und ebenfalls ermorden. Das Mädchen wollte schneller rennen, wollte den bösen Männern hinter sich entkommen. Doch ihre Beine trugen sie nicht schneller. Wie in einem Traum, in dem sie versucht zu fliehen ohne es zu können, vermochte sie auch nicht schneller zu rennen, als die Pfeile, die plötzlich in ihren Rücken schlugen. Sie verlor das Gleichgewicht und sah den Boden näher kommen, doch in dem Moment schlug eine Wurfaxt in ihren Hinterkopf, und für das kleine Mädchen war die Flucht vorbei.
Die Magd des Hauses, aus dem das kleine Mädchen hatte entkommen können, ließ sich kurz vor dem Waldrand einfach fallen. Sie wusste nicht warum, aber sie tat es. Ein Pfeil schlug in den Baum vor ihr. Er hätte sie getroffen, wäre sie nicht der Eingebung gefolgt. Das musste die Weisheit ihrer Göttin sein, der Herrin der hohen Berge, die diesen Kontinent dominierten. Ihre Göttin war Alan, das einzig perfekte Wesen. Und dieser Göttin gehorchend sprang die Magd auf und stolperte auf den Waldrand zu. Ihre mehr dem Fallen denn dem Rennen verwandten Bewegungen verhinderten es, dass sie ein Ziel für die Bogenschützen abgab. Die junge, rothaarige Frau fiel einmal mehr hin, und wieder flog ein Pfeil über sie hinweg. Noch einmal erhob sie sich schnell und machte ein paar letzte unsichere Schritte, dann war sie hinter dem ersten Baum. Die Bogenschützen waren nun nicht mehr ihr Problem, dafür aber wurden die Krieger, die nun über das Feld gelaufen kamen, dazu. Was sollte sie tun? Sie sah Leute ihres Dorfes unter den Pfeilen und Wurfgeschossen zusammenbrechen, andere wurden von den Kriegern eingeholt und niedergeschlagen. Die Magd sah sich gehetzt und in Todesangst um. Sie musste durch den Wald, obwohl hier niemand hinein ging. Er war dunkel und unheimlich, und allerlei Tiere lebten darin, die wenig Spaß daran hatten, ihren Lebensraum mit den Zweibeinern zu teilen. Eine andere Chance hatte sie jedoch nicht. Sie musste es tun. Denn zurück zur Straße konnte sie nicht, die Onta-Krieger waren überall. Die Todesangst trieb sie in das dichter werdende Unterholz. Sie zerrte das Drijon auseinander und eilte weiter. Immer tiefer in den Wald, Zweige schlugen in ihr Gesicht, Dornen zerkratzten ihre Füße, Beine und Arme. Auch die dünne, schlichte Tunika, die Tracht einer einfachen Magd, schützte ihren Körper nicht. Doch all das war nicht ihr Problem, durfte es nicht sein, wenn sie nicht sterben wollte. Sie rannte einfach weiter, wusste nicht mehr, ob sie überhaupt in die richtige Richtung lief – fort von den Mördern. Sie hoffte einfach, dass sie ihnen so entkommen konnte. Sie lief um ihr Leben und immer tiefer in den Wald, der schon so viele Wanderer verschlungen hatte.
1. Kapitel
Der Staat der Anhänger der Göttin Alan war eine illustre Gemeinschaft vieler verschiedener Ethnien. Ursprünglich gegründet worden war er von den Sa-i-Tse des fruchtbaren Tals mirmes am Fuße des höchsten Berges der Welt. Die Anhänger des ba’ālan, des Glaubens an die Göttin Alan, hatten jedoch Schritt für Schritt das Gebiet zwischen dem Fluss Silmiron und der Wüste Enfi’Er erobert. Einzig die Städte Sebeg Hefr am mächtigen Fluss Moaskam gelegen, sowie die Stadt Dir-Tashan im Silmiron-Delta konnten den Kriegern widerstehen und wurden nicht erobert. Shorg’jagg, eine Stadt der Isenbor, eines mächtigen, stolzen un dsehr alten Karogej-Stammes, hatte früher die Ebene beherrscht. Gelegen im Quellgebiet von vier Flüssen verehrten die Isenbor die vier Quellnymphen Melshan, Seli-Dorq, Es-Agh Ashaydj und Hila, die dem Gott Nemeshot des Dianischen Glaubens unterstanden. Ihre Stadt wurde eingenommen und die überlebenden Isenbor-Karogej versklavt als trebet, als leibeigene Arbeiter der Sa-i-Tse. Nach ihrem großen Sieg über die Städte der Ebene schlossen sich den Eroberern immer mehr Gruppen an, die in der Herrin der Berge die mächtigste Gottheit sahen. So wurden Lukonja und Su Fra, Harjassi und Karogej, Djitessi und Retisa ebenfalls zu Anhängern des ba’ālan. Sie lebten miteinander in den gleichen Städten, im selben Stadtteil und verbanden sich über ihren Glauben, der ihre Gemeinschaft einte. Doch diese scheinbar so offene Religion, in der sich die verschiedensten Ethnien einander annäherten, hatte ein großes Problem mit Toleranz. Es gab nämlich für die Anhänger der Alan keine anderen Götter. Das war undenkbar. Und sollte sich eine Gottheit den Anhängern offenbaren, so musste es ein Diener der Alan sein, denn sie war das einzige perfekte Wesen. Die Anhänger der Alan hatten viele Wege gefunden, das auf unterschiedlichen Ebenen ihrer erstaunlich komplexen Gesellschaft auszudrücken. Die Schriften der Bena von Enfi-Amar, Keimzelle des Glaubens und Grundlage für alles, waren da ziemlich eindeutig.
Vor vielen Jahren hatte sie – und nur sie – Zeugnis abgelegt von der mächtigen Göttin Alan, der Herrin der gigantischen, alles beherrschenden Berge des Kontinents Apkalg, und deren ganz eigener Sicht der Dinge. Unter anderem hatte die Göttin ihren Gläubigen auch Regeln für ein Zusammenleben an die Hand gegeben, von denen eine unmissverständlich klarstellte, dass es – für den Gläubigen – nur Alan gab. Sie und niemand anderen.
Bena verfasste als einzige Prophetin der Göttin Alan tatsächlich nur zwei Dialoge, den Settem und den Monayos. Objektiv gesehen ist das erst einmal wenig; die Dialoge waren keine besonders langen Texte von vielen hundert Seiten, sondern ließen sich gemeinsam auf weniger als 50 Seiten schreiben. Das ist tatsächlich sehr wenig, doch brachte Bena den Glauben einem Volk, das bis zu diesem Zeitpunkt so gar keinen Zugang zu irgendwelchen Religionen hatte finden können. Aus diesem Blickwinkel gesehen waren die 50 Seiten dann fast schon wieder unzumutbar viel.
Der erste Dialog, der Settem, entstand in Enfi-Amar, ihrem Heimatdorf. Bena war zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt, unverheiratet und arbeitete als Dienerin einer jungen Herrschaft, die einfach nur nicht kochen und putzen wollte. In ihrem Todesjahr schrieb die Frau dann den Monayos, der in dem Haus der Alan in Shantaq Arsat, der Hauptstadt und späteren Reichsmetropole, entstand. Dazwischen war es Bena gelungen, in der kleinen Stadt Simelish ebenfalls ein Haus der Alan zu errichten. Das Lebenswerk von Bena wurde eine Zeit lang nur in den drei Häusern weiter tradiert, übernommen von jungen Frauen der Unterschicht und des Mittelstandes, die in der Herrin der Berge eine Art von martriachalem Ansatz sahen und sich eine solche Welt für sich selbst durchaus vorstellen konnten und wollten. Derer gab es nie wirklich viele; die Sa-i-Tse des Tales und der Ebene verschlossen sich gerne vor der Religion, oktroyierte sie doch nichts weiter als Zwänge, die man ohne den Glauben nicht hatte. Doch dann wurde Benas Idee aufgegriffen und verselbständigte sich eines Tages.
Es begann mit einem Prinzen, dessen Schwester den Vorzug erhielt vor ihm, und der damit nicht so recht umgehen konnte. Verzweifelt suchte der junge, schlanke Mann nach Lösungen, nach irgendetwas, das ihm half, aus dieser Form des Lebens heraus zu kommen. Der Schwestermord kam nicht in Frage. Das war etwas, das er sich so gar nicht vorstellen konnte. Es musste da etwas geben, das näher an der Legalität war und ihn mit einem reinen Gewissen leben ließ. Eine Lösung eben, die zu Aller, besonders aber zu seiner Zufriedenheit war. Er suchte bald hier und bald dort, lange in der großen Bibliothek, die jedoch keine große Hilfe war, nur eine Inspiration, welche Möglichkeiten es gab, illegal die Macht zu erlangen, und ging dann von einem kleinen Haus einer Glaubensgemeinschaft zum nächsten. Derer gab es nicht ganz so viele, Tempel suchte das Auge vergebens, so dass er sich schon durch die Stadt fragen musste. Es war eine beschwerliche Suche nach einer Lösung.
Doch er fand sie in den Schriften Benas von Enfi-Amar. Im zweiten Dialog, dem Monayos, hatte die Frau eine staatliche Struktur verschriftlicht, wie sie Alan vorschwebte. Es war etwas kompliziert zu lesen und zu verstehen, und er musste sich das aufmalen, um es nachvollziehen zu können. Offensichtlich war der Text nach solch einer Zeichnung auch entstanden. Die Göttin schien ernsthaft mit der Schreiberin gesprochen zu haben. Als es das Bild gab und Verständnis in den Augen des Prinzen aufleuchtete, las er die Passagen noch einmal. Diesmal ergab alles einen Sinn. Die Struktur des Staates war einfach, viel unkomplizierter als diese irgendwelchen Befindlichkeiten geschuldeten Konstrukte des realen Lebens. Dort bei Bena, und somit bei Alan, stand über dem König oder der Königin der wa'alan, der Hohe Priester der Alan. Er lenkte als einziger von der Weisheit berührter Sterblicher den Staat in Zwiesprache mit der Herrin der Berge. Der Prinz nahm den Glauben an, ließ sein Haar wachsen und färbte das Deckhaar rot, in der Farbe der Priesterschaft der Göttin Alan.
Doch es sollte weiter viele hundert Jahre dauern, bis sich das erste richtige Kloster gründete, in dem die Nonnen und Mönche den Glauben der Alan weiter gaben und auch weiter entwickelten. Der Glaube begann die anderen Religionen zu verdrängen, sie waren in diesem Staat der Sa-i-Tse ohnehin nicht beachtet worden. Benas erster Dialog mit Alan beginnt mit der völlig korrekten Anklage der Göttin, dass die Sa-i-Tse im Schatten der Berge wenig gläubig seien. Daran änderte sich in den Jahren nichts, bis das ba'ãlan immer stärker wurde und die Bevölkerung daran erinnerte, dass es nach dem Leben möglicherweise jemanden gab, der sie richten würde.
Nur elf Jahre nach dem ersten Kloster gründete sich die Schule Preshed Emes, aus der in der Folge die größten Hardliner hervorgingen. Errichtet wurde es auf dem Gelände eines großen Gutshofes unweit der Hauptstadt. Von Beginn an waren alle Mauern rot gestrichen, in der Farbe der Priesterschaft der Herrin der Berge. Die roten Dachziegel komplettierten den Eindruck, dass hier konzentriert der Alan gedacht wurde. Dieses Kloster vergrößerte rasch sich selbst und seinen Einfluss auf die Bevölkerung und den Staat. Schritt für Schritt wurde die von Bena festgeschriebene Staatsstruktur übernommen, was einige Jahre dauerte. Nicht jeder Einwohner hatte nur auf die Implementierung eines strengen Glaubens gewartet und blühte auf; einige wollten überzeugt oder überredet werden.