Prolog
Orgumoqq der Mächtige erwachte. Es war soweit: Dies war der Moment, für den er geschaffen worden war, dessen war der magische Dolch sich sicher; es musste einfach diesen Grund haben. Alle Gedanken, die er jemals hatte denken können, ließen keinen anderen Schluss zu, als dass hinter allem ein Plan stand, größer als selbst die Götter es für möglich halten mochten. Und er hatte sehr viel Zeit gehabt, um nachzudenken. Überlegen und beobachten, das konnte er tun. Was mochte seine Aufgabe in diesem Gefüge sein – oder werden? Er lag hier, und nun wurde er geholt, er spürte die Präsenz des Wesens. Sie würden doch sicherlich gemeinsam hinaus gehen, oder gab es ihn nur, um diese eine Kreatur, die so viel mehr war als die übrigen, zu töten, ihr Leben einfach zu nehmen, weil er es vermochte? Und, das blitzte nun als Möglichkeit in ihm auf: Vermochte er es überhaupt? Oder würde er schon hieran scheitern? Eigentlich undenkbar, und dennoch kam die Idee in ihm auf.
Geschmiedet im heißesten Feuer der Welten, in einer magischen Flamme von ungeheurer Temperatur, besprochen, gehärtet und dann geschliffen und poliert. Wie lange mochte das gedauert haben? Verglichen mit der Zeit seines Schlafes war es weniger als ein Lidschlag kosten mochte. Viel, viel weniger. Doch Orgumoqq hatte Geduld. Musste er auch haben, denn er konnte nichts weiter machen als sein. Das war seine Bestimmung, nahm er an. Er war nicht fähig zu reden noch zu gehen, er konnte nichts weiter tun als sich Gedanken machen und sie sortieren, verwerfen und neue Gedanken machen. Und schlafen.
Er war, und seine Zeit kam, während seine Meister, die ihn mit dem Wissen zweier Welten geschaffen hatten, verbannt waren von diesen Welten. Es hätte ihnen klar sein müssen im Moment, als sie ihn schufen. Sie versammelten alle Macht in seiner Klinge. Er war dadurch mehr als sie. Und auch mehr als ihre Völker. So viel Macht durfte nicht gebündelt werden. Flügellose und Geflügelte konnten das nicht dulden und mussten konsequent reagieren. Sicherlich war das geschehen. Sie hatten es voraus gesehen, und sie hatten auch voraus gesehen, dass es auf dieser Welt noch zwei weitere Besiedlungsphasen geben würde. Vielleicht war das auch von Beginn an so geplant. Doch nur eine Vereinigung dieser beiden Schöpfungen – und weder Flügelloser noch Geflügelter, wie Orgumoqq sie kennen gelernt hatte – würde in diese Höhle eindringen können. Niemand anderer würde durch das magische Portal treten können.
Tatsächlich hatten die Schmiede dieses Portal geschaffen, weil sie die unglaubliche Macht des Dolches erst erkannten, als er fertiggestellt war und auf dem grünen Samtkissen ruhte. Es war völlig unwahrscheinlich in ihren Augen, dass sich eine weitere Schöpfung auf Drurka bewegen würde. Jemals. Was jedoch noch viel utopischer sein würde wäre die Verbindung zweier völlig verschiedener Völker, von denen keines je geschaffen werden sollte. Das war der Plan, das Tor war sicher für alle Zeiten. Niemand würde die Macht haben, dort einzutreten und sich Orgumoqq nehmen können, um Unheil damit anzurichten. Die mächtigen Schmiede sprachen ihren unumkehrbaren Zauber, und die Höhle war verschlossen.
Im letzten Augenblick erkannte der magische Dolch, was sie wirklich planten. Und er nahm von ihnen. Orgumoqq war nicht in der Lage, das irgendwie genauer zu beschreiben. Er riss etwas aus den beiden so unterschiedlichen Kreaturen heraus, und weder Sheddim noch Esseddyn erinnerten sich jemals wieder daran, was sie unter den Bergen von Apkalg getan hatten. Nicht einmal in der Stunde, als sie sich unversöhnlich gegenüber gestanden hatten.
Nun war der Augenblick gekommen, da sich etwas erfüllte, an das weder die Schmiede noch irgendeine andere Kreatur jemals geglaubt hatten. Einer der wenigen Mischlinge fand die Höhle und betrat sie. Ihr Gang führte die junge Frau tief in die Berge hinein, und unter die Welt.
Was hatte sie gefunden? War dies ein alter Stollen, in dem schon vor Beginn der Zeit gegraben worden war? Und wonach? Vielleicht nach großen Schätzen? Die Wände wirkten anders auf sie. Nicht wie normales Gestein, sondern so, als lagere etwas in ihnen. Oder als wäre das dereinst so gewesen. Bevor der wertvolle Stoff abgebaut worden war. Ihre braunen, leicht schräg gestellten Augen blickten die Wände interessiert an. Sie hatte nur wenig Ahnung von den Lagerstätten der Metallerze. Was sie als Mädchen so gelernt hatte; sie war sich immer sicher gewesen, nicht als Sklavin in einem solchen Stollen zu landen, um das wertvolle Material mit einem eher ungeeigneten Werkzeug abzubauen. Ein korrekt funktionierendes Instrument hätte man ihr in keinem Fall zur Verfügung gestellt, das wusste Gorza. Niemand würde das, jedenfalls nicht, wenn er ihr kleines Geheimnis kannte. Und das konnte man sehr leicht heraus finden.
Sie packte die Fackel fester und machte einen weiteren Schritt, vorsichtig über den langsam rauer werdenden Untergrund schreitend. Durch die dünne Ledersohle ihrer schlichten Lederschuhe spürte Gorza jede Unebenheit, doch so wirklich sicher, dass sie nicht in eine Falle lief, war sie nicht. Sie wusste von ihrer Mutter, was dereinst geschehen war. Ashaya hatte es aus einer solchen Falle heraus geschafft, doch der Preis war unendlich hoch gewesen. Die Ehre, die Freiheit und alle Macht hatte sie bezahlt. Damals ...
1. Buch
Ashaya
7. Jahr der Regentschaft von Pontifex Maximus Jivor Obao
Ashala war eine talentierte Magierin, sagte ihr Umfeld, und stammte aus einer Hafenstadt auf Apkalg, die eine wechselvolle Geschichte hatte. Dennoch war sie immer noch – oder schon wieder – in den Händen ihres Volkes, der Ilvon Shiya. Und für deren Magier gab es nur eine wirkliche Herausforderung: Den Orden des Mirkon. Das war nichts, was man sich einfach so erzählte, sondern eigentlich war es Geheimwissen, das in einigen Tempeln weiter gegeben wurde. Große Magier kannten diesen Orden vielleicht, gewöhnliche Sterbliche jedoch nicht. Sie hörten diesen Namen normalerweise zu keiner Zeit, denn ihre Welt hatte genau genommen keine Berührungspunkte mit dieser hohen Kunst. In sehr wenigen Schriftrollen in einer überschaubaren Anzahl alter Bibliotheken tauchte der Name auf, so dass hohe Schriftgelehrte den Begriff kennen konnten, und auch das Wissen hatten, dass es sich um einen magischen Orden handelte. Damit endete jedoch die Bekanntheit des Mirkon. Alle anderen, die es kennen gelernt hatten, redeten einfach nicht darüber, oder konnten es nicht mehr, weil sie von der Kriegskunst, die Teil des Mirkon war, hinweggefegt wurden. Beobachter solcher Szenen sprachen in der Regel von bestialischen Methoden der Ilvon Shiya, ohne das irgendwie präzisieren zu können oder zu wollen. Nur Barden taten das bisweilen.
Ashala war als einfaches Mädchen geboren, doch immer schon hatte sie einen geheimnisvollen Protegé, der ihr und ihrer Familie das Überleben sicherte. Anfangs waren sie und ihre Eltern davon ausgegangen, dass es Perduj Erti'at sei, für den die Mutter arbeitete, und in dessen Haus sie Ashala manchmal mitnahm, wo sie mit der Tochter des Dienstherrn spielte. Eines Tages jedoch trat dieser Mann an sie und ihre Familie heran. Es war niemand geringerer als Ormon Aogor'at, der als Hoher Priester den Tempel der Stadt leitete und Vorsteher eines kleinen Hauses war, in dem jungen Ilvon Shiya das Zaubern beigebracht wurde. So hatte Ashala es für sich definiert. All diese jungen Leute waren ausnahmslos Kinder aus einfachen Verhältnissen, nur ein Mädchen war die Tochter eines betuchten Händlers.
„Ich möchte eure Tochter in mein Haus bitten, um sie auszubilden“, hatte Ormon begonnen. „Das ist eine Ehre, doch ihr zahlt einen hohen Preis, denn ich kaufe sie euch ab, sie wird für eine sehr lange Zeit nicht wieder zurück kehren zu euch.“
Die Mutter hatte lautes Klagen begonnen, und auch ihr Vater hatte Tränen in den Augen gehabt. Das eigene Kind, und es sollte fort gehen. Vielleicht in der Stadt bleiben, vielleicht auch auf einen anderen Kontinent verschifft werden, ohne den Kontakt zu den Eltern. Eigentlich unvorstellbar. Ormon wusste den Eltern diese Entscheidung zu erleichtern. Sie hatten fünf weitere Kinder, und das Überleben der gesamten Familie würde auf dem Spiel stehen, wenn sich nur eine Kleinigkeit in ihrer Gesamtsituation ändern sollte. Diese Gefahr jedoch bestand zu jeder Zeit. Der Priester dagegen wollte der Familie ein größeres Haus schenken und sehr viel Geld zur Verfügung stellen, so dass sie in jedem Fall ein würdiges Dasein fristen konnten, auch ohne die kleine Ashala. Die wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Natürlich wäre es für sie eine Art von Befreiung, der elterlichen Aufsicht zu entkommen. Auf der anderen Seite wollte sie gar nicht leugnen, dass die Aufsicht im Tempel des Priesters sicherlich ebenso streng sein würde. Es sollte ja eine Ausbildung sein, sie würde zur Priesterin werden und Macht erlangen. Endlich sahen andere Ilvon Shiya zu ihr auf! Diese Aussicht war nahezu jeden Preis wert.
Und sicherlich waren die Bestrafungen des Ormon Aogor'at deutlich weniger ungerecht, als jene der Eltern. Deren Ansichten von Gerechtigkeit standen denen von Ashala diametral gegenüber. Das Mädchen, gerade mal zwölf Jahre alt, befand sich inmitten ihres Prozesses, den die Ilvon Shiya Reifung nannten. Sie wurde zu einer Frau, die mit ihrer großen magischen Begabung sicherlich die besten Grundvoraussetzungen mitbrachte, zu Ormons nächster Meisterschülerin zu werden. Der auf Apkalg als Priester bekannte Magier war nichts weniger als einer der Großmeister des Mirkon, ein sehr mächtiger Magier, der – glaubte man einer alten Sage – mit seiner Kunst problemlos die gesamte Welt in seinen Bann hätte schlagen können, um sie fortan zu regieren. Ob das zum Wohl oder eher zum Wehe der Welt sein würde, vermochte jedoch niemand zu sagen, der über das Phänomen zu mächtig gewordener Magier sinnierte. Jeder hielt es jedoch für sehr wahrscheinlich, dass der Hexenmeister, einmal die Macht auf diese unrühmliche Art erlangt, sie nur wenig löblich ausüben würde. Bislang war noch jeder, der sich eine solche Position ergaunert hatte, von den Möglichkeiten korrumpiert worden und hatte sich komplett gehen lassen. Etwas anderes war noch nicht bekannt geworden, und auf einer Welt, auf der Barden jede Geschichte, die genug Potenzial in sich bergen würde, laut singend verbreiteten, hätte diese seltene Alternative begeisterten Anklang gefunden.