1. Kapitel
Dana kam um die großen, schroffen, braunen Felsen der Wegbiegung und wusste sofort, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Blitzschnell sahen sich ihre großen Mandelaugen um. Da war das Selvische Meer zu ihrer Linken, nicht zu ignorieren in Größe und tosender Brandung. Diese Geräuschkulisse hatte auch den Kampflärm übertönt, den ihr ausgezeichnetes Gehör sonst in jedem Fall wahrgenommen hätte. Im Wasser lagen zwei Schiffe, Kriegsschiffe der Beleni mit wenig Tiefgang, um bis auf den schmalen Strand zu fahren. Ihre Segel waren eingeholt und die langen Ruder an Bord verstaut. Zu ihrer Rechten ging es hoch in die nördlichsten Gipfel des Planin, des großen Massivs von Nadej. Der braune Fels war an vielen Stellen von Moos und anderen Pflanzen überwachsen. Nur selten einmal hatten sich die Wurzeln eines Baumes am Berg halten können.
Vor Dana befanden sich die Krieger. Es waren schwarzhaarige Beleni mit großen Nasen und ohne Wappenröcke, gekleidet wie Söldner, die mit gezogenen Schwertern auf die wenigen Kämpfer ihres Volkes zukamen. Dieser Übermacht mussten die Soldaten mit den blauen Waffenröcken sich eigentlich ergeben, doch Dana wusste, dass sie diesen Weg auf die andere Seite des Planin versuchen würden zu halten. Es gab keine Alternative; dies hier war der Handelsweg in den Osten, hier über den hellen Sandstrand zogen die Handelskarawanen. Große Kämpfer waren hier stationiert, diese Straße zu schützen, und sie würden so lange standhalten müssen, bis Unterstützung aus dem naheliegenden Kastell kam. Dana blickte den Weg zurück. Von dort mussten die Kämpfer ihrer Republik kommen. Sie würden schnell sein und sich nicht aufhalten damit, um eine junge Frau herum zu laufen, sondern würden sie umrennen. Das stand außer Frage, und Dana starrte auf die sich schlagenden Krieger, die in ihre Richtung kamen, fliehend vor der Übermacht der Beleni, doch immer wieder stehen bleibend, um kurz dem Feind entgegen zu treten. Schon waren die ersten Verluste auf beiden Seiten zu beklagen. Die junge Frau musste sich jetzt entscheiden. Sicher, sie konnte kämpfen, doch war sie für die überzähligen Angreifer von einem hohen materiellen Wert, auf dem Sklavenmarkt nämlich. In dieser Rolle sah Dana sich jedoch nicht. Ihre dunklen Augen blickten hoch zu den Bergen, als sie ihren folgenschweren Entschluss fasste. Es musste wohl so sein …
Sie warf ihr Bündel über die Schulter, hielt es mit den Zähnen, und begann zu klettern. Nur langsam kam die junge Frau den Hang hinauf, und es war beschwerlich. Ihre Hände fanden nur wenig Halt, und unter ihr war der Lärm des Kampfes nun unüberhörbar. Verwundete schrien und die Schwerter knallten auf die Schilde, trafen die metallenen Schildbuckel oder dumpf das Holz. Ein flüchtiger Blick zurück zeigte ihr, dass die Onta-Krieger sich formiert hatten an der Biegung, um die sie gekommen war. Hier hielten sie den Weg und hofften auf Beistand. Noch immer rauschte das Meer gewaltig, und direkt unter Dana wurde gekämpft. Würde sie abrutschen, fiele sie direkt in die Waffen der Soldaten unter sich. Doch Dana kam höher und höher. Sie konzentrierte sich und versuchte ihre Kräfte auf den Aufstieg zu fokussieren. Mit rasendem Herzschlag hielt sie sich an einem Überhang und wollte sich hochziehen, als sie mit dem rechten Fuß abrutschte und fast in die Tiefe stürzte. Ihr Schuh glitt langsam vom Fuß und fiel den Hang hinab. Er schlug zwei Mal auf und wurde beim zweiten Mal so fortgeschleudert, dass er gegen den gegenüberliegenden Hang prallte, um von dort auf die Krieger zu fallen. Niemand nahm den kleinen Schuh wahr. Die Soldaten kämpften verbissen weiter um den Weg. Mit letzter Kraft zog sich Dana hoch und blieb auf dem Überhang liegen. Ihr Atem ging schwer und sie schluchzte leise vor sich hin. Sie lag auf dem Bauch und bemerkte lange Zeit nicht, wo sie war. Ihr Leben hatte sich zurückgezogen in einen kleinen Teil ihres Körpers und wollte mit der Welt draußen nichts zu tun haben. Nur leise drangen die Geräusche des Kampfes noch zu Dana durch.
Das Motesh Ag steht für die Möglichkeiten von Konzentration und die Ebenen der Kommunikation, hallte die Stimme ihrer Lehrmeisterin plötzlich im Kopf der jungen Frau. Also versuchte Dana sich zu konzentrieren, und sie begann mit einer Übung der untersten Stufe ihrer Ausbildung, dem Ayi-Id der Ratte. Die Ratte ist vom ersten Element, von der Erde. Und sie lag auf der Erde. Auf dem Felsen sogar. Das war es, die Sammlung auf der Ebene des Ayi-Ved des Felsens. Es war eine Übung für Fortgeschrittene, die fünfte von acht Reifestufen des Feng-Djet. Dana war trotz ihrer Jugend eine Meisterin der sechsten Stufe, des Ayi-Ved des Regens.
Aufgebrochen war sie, obwohl sie noch nicht alle Reifestufe des Feng-Djet absolviert hatte, weil in der Hauptstadt Idden-Li-Dja ihres Reiches, der Republik Uka Shana, ein Magierwettstreit stattgefunden hatte. Sie hatte dort Magie gesehen, die sie nie für möglich gehalten hatte. Diese Bilder hatten eine Glaubenskrise ausgelöst in Dana. Sollte ihre Religion, das Sa-Djao, diesen anderen magischen Religionen etwa unterlegen sein? Zu unglaublich waren die Dinge, die sie sah, zu haarsträubend die Geschichten, von denen die Barden aus allen Teilen der Welt berichteten. An diesen Geschichten musste kein Funke Wahrheit sein, aber es klang schon so, als habe die Religion der Onta, das Sa-Djao, benannt nach dem einzigen Gott, den Anschluss an die großen Zauber der Welt verpasst. Isheni und Beleni waren in der Lage sie zu sagen. Dana selbst konnte nur staunen. Die ihr bekannten Schriften wussten von nichts dergleichen zu berichten.
So lag sie da und machte eine Übung auf der Stufe des Ayi-Ved des Felsens. Langsam normalisierten sich ihre Körperfunktionen wieder. Zu wenig wusste sie von Krieg und Gewalt, dafür war sie zu behütet aufgewachsen. Zwar kannte sie Künste des Krieges, wie sie im Feng-Djet gelehrt wurden, doch das war ein eher theoretischer Teil. Sie hatte es nie wirklich umsetzen müssen und wusste daher nicht, ob sie ihren Gegnern überhaupt gewachsen war. Dies war nicht der Ort, das herauszufinden, fand sie. Nicht auf dieser kleinen Straße entlang der Küste, die oft über den schmalen hellen Strand mit dem feinkörnigen Sand verlief und sich nur zwischen den Felsen durchschlängelte, wenn es mal keinen Strand gab.
Als sie ihren Blick hob, wusste sie nicht wie lange sie dort gelegen hatte. Es musste eine Weile gewesen sein. Inzwischen lagen deutlich mehr Schiffe der Beleni in der Bucht. Unter ihr kämpften verbissen die Krieger beider Seiten um jeden Schritt. Die Onta hatten ebenfalls Nachschub erhalten, und die Verletzten schrien noch immer ihren Schmerz und ihre Angst heraus. Dies war kein guter Ort und kein guter Zeitpunkt für einen Spaziergang. Nicht unten am Strand. Sie erhob sich auf die Knie und sah nach oben. Der Hang wurde immer steiler und unwegsamer. Sie blickte nach rechts und links. Und sie knibbelte mit den Augen. Täuschte sie sich, oder sah sie einen schmalen Weg? Lag sie etwa auf einem Pfad, der hier über den Köpfen der Krieger entlang führte? Musste sie nicht ihren Soldaten Bescheid geben, dass sie auf diese Art und Weise in den Rücken der feindlichen Krieger gelangen konnten?
Dieser Küstenweg war umkämpft. Seit vielen Jahren schon stritten die Beleni und Onta um diese Handelsstraße. Es waren diese Kampfhandlungen, die die Straße so unattraktiv machten, dass sie seit einigen Jahren schon nicht mehr genutzt wurde. Die Händler nahmen den Umweg über den Süden, der das Planin umging und durch eine Schlucht von der westlichen zur östlichen Hälfte des Kontinents Nadejs führte, gern in Kauf. Der Weg war teurer aber dafür weitaus weniger gefährlich. Selbst eine Überfahrt stellte eine bessere Alternative mit geringerem Wagnis dar.
Wieder besah sie sich den Pfad. Nein, für Soldaten war er vielleicht nicht unbedingt geeignet. Er war schmal und gratig, der Felsen war rau und es war unangenehm, darauf zu laufen. Sie musste sich mit dem Bauch nah an den Berg stellen, das Bündel in der ausgestreckten rechten Hand, sich mit der Linken immer absichernd haltend, wenn es möglich war. So ging sie manchmal zügig, manchmal auch nur auf Zehenspitzen und an den Berg gepresst, aber immer stetig vorwärts. Als sie die Kampfhandlungen hinter sich gelassen hatte, bemerkte sie, dass der Weg weiter nach oben ging. Konstant erklomm sie so die Höhe und hoffte, auf einen weniger ausgetretenen Teil dieses wohl natürlichen Pfades zu gelangen. Vielleicht eine Rinne, von den Spuren der Zeit in den Felsen gespült, wer vermochte das zu sagen? Als sie einen größeren Vorsprung bemerkte, auf dem sie rasten konnte, wurde sie schneller und unaufmerksamer. Sie glitt fast wieder ab, wieder mit dem rechten Fuß, und tat sich weh. Tränen schossen ihr in die Augen, obwohl sie das nicht wollte. Mit schnellem Atem klammerte sie sich an den Berg, umarmte ihn fast.
So sahen sie die Soldaten. Dana bemerkte die Krieger erst, als sie die gebrüllten Kommandos über die Brandung hören konnte. Mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen erkannte sie, dass sie Beleni sein mussten. Auch sie trugen verschieden farbige Hosen und kurze Tuniken, ohne einen Wappenrock darüber, der ihre Farben zeigte. Die Schilde der Männer waren unterschiedlich, sahen jedoch relativ neu und ungebraucht aus, soweit sich das aus dieser Höhe beurteilen ließ. Die meisten hatten Kurzschwerter, das Mädchen konnte kaum eine Spatha, ein zweischneidiges Langschwert, ausmachen.
Schon hatte der Kommandant die Krieger aufmerksam gemacht auf die Gestalt am Berg. Die junge Frau beeilte sich, um zu dem Vorsprung zu kommen, als der erste Pfeil etwas unter ihr gegen den Fels klatschte und zerbrach. Sie würden nicht mehr lange benötigen, bis sie das Ziel richtig anvisiert hatten. Da hatte Dana den Vorsprung erreicht und hockte sich hin. Sie bot kein Ziel mehr für die Schützen; vom Strand aus war sie nun nicht mehr zu sehen. Doch nun würden sie kommen, um sie zu holen. Die Soldaten würden den Hang hinaufklettern und sicherlich weniger ungeschickt sein als sie, und schon bald hätten sie das Mädchen mit den langen dunkelbraunen Haaren erreicht. Gehetzt sah sie sich um. Der weitere Weg war sicher breiter und daher auch etwas schneller zu gehen. Doch die Soldaten mussten ihr am Fuß des Planin einfach nur langsam folgen, und schon würden sie ihrer habhaft. Was konnte sie tun?
Sie erstarrte fast vor Schreck, als sie bemerkte, dass sie vor einem Höhleneingang saß. Sicher wohnte hier drin ein Bär oder ein ähnlich großes Tier, dem sie nicht begegnen wollte. Ein Pfeil pfiff bedenklich knapp über sie hinweg und prallte gegen den Berg. Er zerbrach beim Aufprall und fiel auf den Felsvorsprung vor der Höhle. Da senkte sich ein Pfeil aus dem Himmel herab und schlug ganz dicht neben ihrer Hand auf den Vorsprung. Dana quiekte erschrocken auf und sprang in die Dunkelheit. Weitere Pfeile prasselten vor der Höhle nieder und blieben liegen oder purzelten nach dem harten Aufprall den Hang hinunter zu den Schützen. Sicher gingen sie nicht davon aus, das Mädchen getroffen zu haben. Bestimmt würden sie kommen, um sie zu holen. Dana wollte vorbereitet sein. Sie sammelte sich, denn die Soldaten würden natürlich eine Weile klettern müssen, bis sie so weit oben wären. Als sie die Kräfte bei sich wusste und ihr kurzes Schwert sowie das Pariermesser geprüft hatte, sah sie sich um. Die Höhle wirkte rau und schroff, richtig unwirtlich und abweisend. Eigentlich hatte sie eine große Dunkelheit erwartet, und der Gedanke daran erfüllte sie mit Angst. Doch die Wände leuchteten schwach grünlich und schufen ein diffuses Licht, das eine Fackel entbehrlich werden ließ. Solche Höhlen gab es viele, erzählten die Barden. Manche waren bewohnt, sangen sie. Dana hoffte, dass diese eine Leuchtende nicht bewohnt war. Sie blickte sich weiter um. Da war ein dunklerer Fleck. Hinten, am Ende. Sie ging darauf zu. Wenn überhaupt, dann würden die Krieger sich vor diesem Ort fürchten, denn er versprach Dunkelheit.
Als Dana aber auf diesen Punkt zuging, musste sie feststellen, dass die Höhle hier einfach nur weiter ging. Und sie wirkte nicht mehr wie eine Höhle, mehr wie ein ganz normaler Gang, der zufällig nur kein Fenster hatte. Mit großen Augen starrte die junge Frau in die unwirkliche Diele. Zögerlich ging sie hinein. Dorthin würden ihr die Soldaten vielleicht nicht folgen. Ihr Schuh machte ein leises Geräusch auf dem glatten Boden, also nahm sie ihn in die Hand. Einen Moment dachte sie nach, dann stopfte sie den Schuh in das Bündel und zog ihre Waffen. Vielleicht richteten sich Bären ja im hinteren Teil ihrer Höhlen ganz anders ein als man gemeinhin annahm. Zu ihrer Überraschung musste sie, wenn sie dem Bären plötzlich gegenüber stehen würde, nicht auch noch als einzige Defensivmöglichkeit ihren Schuh in der Hand halten. Das Kurzschwert würde es auch tun. Vielleicht machte es auf einen Bären oder Gegner ja mehr Eindruck als ein Schuh.
Dana stellte kurz darauf fest, dass der Bär – wenn ein Bär hier wohnen sollte – ziemlich durchschnittlich wirkende Türen für die Räume seiner Höhle gezimmert hatte. Sie war nach einigen Schritten auf dem kühlen Boden zu einer Kreuzung mit einem Quergang gekommen. In den links und rechts abgehenden Fluren wie weiter vorn im Hauptgang, durch den sie ging, befanden sich Portale aus einem dunklen und sehr alt wirkenden Holz. Nichts auffällig Schönes und Elegantes, aber auch nichts Schäbiges oder Hässliches.
Trotz der Erkenntnis, dass ein Bär wohl eher nicht der Bewohner dieser geheimnisvollen Höhle war, wandte Dana sich nach rechts und bog um die Ecke in den Seitengang. Links befanden sich zwei geschlossene Öffnungen, rechts eine, direkt vor Kopf am Ende des Flures ebenfalls eine. Alle Türen sahen identisch aus. Nicht sehr einfallsreich vom Bären, fand die junge Frau und ging in sich. Das Ayi-Ved des Felsens gab ihr Halt und ließ sie die Waffen an diesem unwirklichen Ort sicher und fest halten. Ihr lederner Beutel, den sie an den Gürtel geknotet hatte, schwang in alle Richtungen und traf immer mal wieder ihre Kniekehlen; nicht wirklich angenehm, fand Dana. Eine Möglichkeit, ihn an einer anderen Stelle zu befestigen, hatte sie nicht, und so ging sie langsam weiter. Den Beutel mit der Nahrung und Kleidung zum Wechseln mochte sie nicht irgendwo hier stehen lassen. Dafür war das System der Gänge zu unheimlich, dafür wirkten die Eingänge in die unbekannten Räume zu akkurat gearbeitet. Jemand war hier.